Der Monte Verità aus der Sicht von Harald Szeemann: "Der Ort an dem unsere Stirn den Himmel berührt..."

von Harald Szeemann (1933-2005)

Das Tessin, seit 1803 Kanton und Republik, wird im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Erschliessung des Südens zur bevorzugten Stätte für grossartige Einzelgänger, die die südliche Landschaft als Nährboden ihrer im Norden nicht zu realisierenden Utopien deuten.
Das Tessin wir zur Gegenwelt des urbanisierten, industrialisierten und technisierten Nordens, Zufluchtsort für Weltverbesserer aller Art. Zentrum dieser gelebten Alternativen ist seit 1900 der über Ascona gelegene Hügel "Le Monesce".

Die Lebensreformer, Künder eines dritten Weges zwischen den Blöcken Kapitalismus und Kommunismus, erküren sich ihn nach langer Suche im Gebiet der oberitalischen Seen zur neuen Heimat.

Die Gründer kommen aus allen Himmelsrichtungen: Henri Oedenkoven aus Antwerpen, die Pianistin Ida Hofmann aus Montenegro, der Künstler Gusto und der Ex-Offizier Karl Graeser aus Transsilvanien. Gemeinsam gehen sie auf dem in „Berg der Wahrheit“ umbenannten Hügel ans Werk.
In Reformkleidern und mit langen Haaren verrichten sie harte Garten- und Feldarbeit, errichten schlichte Hütten, entspannen sich mit Eurythmie und Nacktbaden, leben nahe den Elementen Licht, Luft, Wasser, Sonne, ernähren sich unter Vermeidung aller tierischen Nahrung nur von Pflanzen, Gemüsen und Früchten.

Sie verehren die Natur, predigen ihre Reinheit und interpretieren sie symbolisch im Sinne des romantischen Gesamtwerks:
Parsifalwiese, Walkürefelsen, Harrassprung sind wie "Monte Verità", Bezeichnungen, die mit der Zeit auch von den – zuerst den Experimenten eher ablehnend gegenüberstehenden – Asconesern übernommen werden.

Ihre angestrebte Gesellschaftsform, die kooperativen Systeme, Frauenemanzipation, Gewissensehe, neue Erziehungsformen, die Einheit von Seele-Geist-Körper in gelebte "Wahrheit" umsetzen will, ist am besten als privat-besitzfreie, urchristlich-kommunistische Gemeinde zu umschreiben.

Die Intensität der zwar nicht in der Gemeinschaft, aber von einzelnen verwirklichten Ideale zieht rasch Aussenseiter der Gesellschaft aus ganz Europa und aus Übersee auf den Monte Verità, der allerdings mit den Jahren immer mehr zum Sanatoriumsbetrieb wird: Theosophen, Lebensreformer, Anarchisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Psychoanalytiker, dann Literaten, Schriftsteller, Dichter und Künstler, und schliesslich die Emigranten der beiden Weltkriege.

Namen: Raphael Friedeberg, il Principe Peter Kropotkin, Erich Mühsam, der Ascona zur "Republik der Heimatlosen" ausruft, Otto Gross, der eine "Hochschule zur Befreiung der Menschheit" plant, August Bebel, Karl Kautsky, Otto Braun, ja vielleicht Lenin und Trotzki, Hermann Hesse, Franziska Gräfin zu Reventlow, Else Lasker-Schüler, D.H. Lawrence, Rudolf von Laban, Mary Wigman, Isadora Duncan, Hugo Ball, Hans Arp, Hans Richter, Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky, Arthur Segal, El Lissitzky und viele andere mehr.

Nach dem Auszug der Gründer 1920 nach Brasilien wird nach einem kurzen Bohèmenzwischenspiel der Monte Verità durch Baron Eduard von der Heydt, einem der grössten Sammler zeitgenössischer Kunst und aussereuropäischer Kulturen, Bankier des Ex-Kaisers Wilhelm II., erworben und zur Residenz umgestaltet.

Die Bohème zieht nun ins Dorf oder in die Täler des Locarnese.
Doch der Hügel, nun als Hotelbetrieb und Erholungspark genutz, behält seine magische Anziehungskraft. Neben der erwiesenen magnetischen Anomalie der geologischen Beschaffenheit des Untergrundes von Ascona wird es das Wissen um die Summe der interdienten, gelungenen und misslungenen Sprünge vom Ich zum Wir, all dieser Annäherungen an die ideale, schöpferische Gesellschaft, sein, die unsichtbar abgelagert, aus dem Monte Verità ein besonderes, landschaftliches und klimatisches Mikroparadies macht.

Der Monte Verità ist aber auch ein erhalten gebliebenes Zeugnis für die Geschichte der Architektur in einem 75'000 m2 grossen Naturpark. Von der Hütte Adams bis zum Bauhaus. Die Weltanschauung der ersten Siedler verlangt nach der Licht-Lufthütte, chaletähnlichen Holzkonstruktionen ohne Komfort.

Kurz nach 1900 entstehen die Casa Selma (heute Museum), Casa Aida (noch bewohnt), die mit abgewinkelter Fassade sich der Sonne maximal öffnende Casa Andrea (heute umgebaut), Casa Elena und Casa del tè (heute abgerissen) und die Casa dei Russi (Schlupfwinkel der russischen Studenten nach der Revolution von 1905, wird renoviert). Für die Gemeinschaft wird di Casa centrale mit einer optimalen Lichtführung, mit der Ying-Yangsymbolik in Fenstern und Geländern errichtet (sie muss 1948 dem Anbau des Restaurants weichen, nur die geschwungenen Treppenaufgänge bestehen noch).

Henry Oedenkoven baut als Wohn- und Repräsentationshaus die Casa Anatta (Seelenhaus), in „theosophischem“ Baustil mit überall abgerundeten Ecken, doppelten Holzwänden mit Schiebetüren, gewölbten Räumen, grossem Flachdach und Terrasse zum Sonnenbaden.

Im Hauptraum dieser Casa tanzt Mary Wigman, sprechen Bebel und Kautsky, Martin Buber, spielt Ida Hofmann Wagner, finden die Feste der Gemeinschaft statt. 1926 richtet Baron von der Heydt die Casa Anatta als Wohnhaus her, schmückt sie mit den sich heute im Museum Rietberg befindlichen Sammlungen afrikanischer, indischer, chinesischer Kunst und der Kollektion der Schweizer Fasnachtsmasken (heute in Washington).

Nach dem Tode des Barons (1964) wird die Casa Anatta, das "originellste Holzhaus der Schweiz", das vom Architektur-Theoretiker Siegfried Giedion bereits 1929 als Musterbeispiel "Befreiten Wohnens" gelobte Haus, nicht mehr benötigt und baufällig.

1978 wird sie als Ausstellort der "Monte Verità Ausstellung" reaktiviert und ist seit 1981 als Museum der Geschichte des Monte Verità öffentlich zugänglich (April bis Oktober).

1909 baut der Turiner Architekt Anselmo Secondo die Villa Semiramis als Gästehaus und Hotel. Die am Hang wie angeklebte Villa weist einige für den piemontesischen Jugendstil prägnante Merkmale auf, am auffälligsten sind wohl die dreieckigen Fensterabschlüsse. 1970 wird sie unter Belassung der Baumasse vom Tessiner Architekten Livio Vacchini stilgerecht erschlossen und modernisiert.

Mit der Ankunft des Barons auf dem Hügel beginnt auch der Einzug der modernen Architektur im Tessin. Der ursprüngliche Auftrag zur Errichtung eines Hotels im vom Bauhaus geprägten rationalen, funktionalen Stil, geht an Mies van der Rohe, ausgeführt wird er durch Emil Fahrenkamp, dem Erbauer des Shellhauses in Berlin und späteren Architekten der Rheinstahlwerke.

Wie die Casa Anatta ist das Hotel dem Felsen vorgebaut, doch nun mit einfachen, klar erkennbaren Bauteilen, schlichten Zimmerfluchten mit Bauhausmöblierung, lichtdurchfluteten Gesellschaftsräumen, ausgeklügelten Bauübergängen und bis ins Detail geplanten Metallarbeiten. Dem Bau des Hotels ist es vor allem zuzuschreiben, dass die Meister des Bauhauses wie Gropius, Albers, Bayer, Breuer, Feiniger, Schlemmer, Schawinsky, Moholy-Nagy, Ascona besuchen, den Monte Verità, und in ihm das entdecken, was Ise Gropius 1978 so formuliert: "Der Ort, an dem unsere Stirn den Himmel berührt..."

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